Jüngst teilten Lehrerinnen und Lehrer bei Twitter eine Karikatur, die den Leser eines Buches zeigt – die Denkblase über seinem Kopf ist gefüllt mit bunten Bildern. Daneben sitzt ein Mensch vor einem Bildschirm, der die gleichen bunten Bilder anzeigt – Die Denkblase dieses Menschen ist jedoch leer.
Die Botschaft ist eindeutig: Lesen bildet, Bildschirme machen dumm. Diese schlichte und durch Autoren wie Manfred Spitzer bestärkte These gefällt leider – allen Einwänden zum Trotz – noch immer vielen Lehrkräften.
Untätig bleibt das Gehirn vor dem Bildschirm aber nur dann, wenn es nicht wissen will, was mit ihm passiert. Wer jedoch die Wirkung von filmischen Mitteln kennt, durchschaut z. B. die Verkaufstricks eines Werbespots. Und Kenntnisse im Gamedesign machen nicht nur resistent gegen die Verlockungen angeblicher „free to play“-Computerspiele, man erfährt ganz nebenbei auch noch, warum Unternehmen ihre Kunden Treffpunkte sammeln lassen.
In beiden Fällen verlässt das Gehirn die langweilige Sicht des Konsumenten und versetzt sich in den wesentlich spannenderen Part des Produzenten.
Macht der Computer Lehrer überflüssig?
Dies sind die Lernprozesse, die Schulen im 21. Jahrhundert anregen müssen, wenn Sie ihr Klientel fit für die Zukunft machen möchten. Wenn alle Informationen in Sekunden verfügbar sind, braucht niemand mehr Lehrer und Dozenten, die in langen Vorträgen lebensfremdes Wissen vermitteln. Sugata Mitra, der faszinierende Untersuchungen darüber anstellt, wie Kinder mit Hilfe eines Computers selbständig lernen, drückte es in einem Vortrag noch etwas deutlicher aus: „A teacher that can be replaced by a machine, should be“.
Vielleicht ist auch gerade die Angst vor der eigenen Überflüssigkeit der Grund, warum sich Lehrkräfte mit Händen und Füßen gegen die Digitalisierung ihres Berufslebens wehren. Smartphones sind an fast allen Schulen Deutschlands verboten, Lehrpläne blenden die technische Entwicklung nahezu vollständig aus und Nachwuchslehrer können ein Examen mit der Bestnote abschließen, ohne zu wissen, dass es im Browser einen Unterschied zwischen dem Google-Suchfeld und der Adressleiste gibt.
Mit steigender Abhängigkeit von der Technik wird diese Ignoranz jedoch zunehmend gefährlich. Das Argument, dass es ja schließlich ausreiche, die Technik bedienen zu können, trägt längst nicht mehr. Schulische Ausbildung dient im 21. Jahrhundert nämlich nicht mehr dazu, treue Untertanen zu produzieren, sondern engagierte und selbstbewusste Individuen, die in Zukunft einmal die Probleme lösen werden, mit denen wir selbst momentan überfordert sind.
Das ungenutzte Multitalent
Und lösen kann unser Nachwuchs diese Probleme – vom Klimawandel bis zur Überbevölkerung – nur mit Computern, der kreativsten Maschine, die die Menschheit je entwickelt hat. Seine Möglichkeiten gehen weit über die der Schrift oder der Mathematik hinaus. An Schulen wird dieses kreative Potential jedoch nicht ansatzweise genutzt. Stattdessen werden Computer dazu verwendet, Briefe zu schreiben oder im Internet zu surfen. Das ist, als hätte man das Batmobil vor der Tür stehen und würde es lediglich dazu nutzen, jeden Morgen zum Bäcker zu fahren.
Um dies zu ändern, muss man in der Schule auch vor dem Computer aus der Rolle des Konsumenten ausbrechen. Dieses Prinzip ist eigentlich nicht neu, beim Lernen von Sprachen oder Mathematik hat es sich seit Jahrhunderten bewährt. Schülerinnen und Schüler lernen nicht nur lesen, sondern auch schreiben. Sie rechnen nicht nur vorgegebene Aufgaben, sondern setzen Mathematik auch zum Lösen von Problemen ein. Das Programmieren ist zwar etwas schwieriger als die ersten Schreib- und Rechenversuche, aber dafür um so lohnender.
Aus diesem Grund setzen sich Bill Gates, Mark Zuckerberg und viele andere Prominente dafür ein, Kindern und Jugendlichen das Programmieren von Computern beizubringen. Natürlich handeln sie aus Eigeninteresse, schließlich wollen Facebook, Microsoft & Co. gut ausgebildeten Nachwuchs, aber auch wer nicht vorhat, seinen Lebensunterhalt in Cupertino oder Redmond zu verdienen, tut gut daran, ein Grundverständnis für die Funktionsweise eines Computers zu entwickeln. Schließlich benötigt man dieses Wissen schon heute beim Lesen einiger Schlagzeilen, etwa über die Auswirkungen des Heartbleed-Bugs in der SSL-Verschlüsselung. Und Schlagzeilen dieser Art werden in Zukunft noch weitaus häufiger auftreten.
Wenn es bundesweit ein Fach „Computing“ gäbe (wie es übrigens seit kurzem in England ab der 1. Klasse der Fall ist), wäre vielleicht auch beim Übersetzen und Korrekturlesen der Steve Jobs-Biographie von Walter Isaacson jemandem aufgefallen, dass man „Silicon Valley“ nicht mit „Silikon-Tal“ übersetzt.
Apropos Silizium: Um zu verstehen, wie ein Computer funktioniert, fängt man am besten bei dem Transistor an. Diese wohl wichtigste Erfindung des letzten Jahrhunderts hat das Zeitalter der mechanischen Rechenmaschinen beendet. Vereinfacht gesprochen funktioniert ein Transistor wie ein Lichtschalter: Er kann ein- und ausgeschaltet werden. Ein modernes Smartphone besitzt zwei Milliarden solcher Transistoren, die im Verbund zu sogenannten Logikgattern komplexe mathematische Aufgaben erledigen können.
Wir brauchen eine digitale Aufklärung
Allein mit diesem Wissen verlieren Computer bereits etwas von ihrer Aura des Magischen. Transistoren können nämlich nicht zaubern, ja noch nicht einmal denken. Sie erledigen sehr schnell und effizient alle Aufgaben, die ihnen der Programmierer befiehlt. Mehr kann ein Computer nicht, aber die unendliche Bandbreite seiner Einsatzmöglichkeiten macht ihn zum Universal-Werkzeug. Wenn aber niemand unseren Kindern beibringt, wie sie dieses Werkzeug für ihre Zwecke nutzen können, darf man sich auch nicht wundern, dass sie zwar unübertroffen in der Bedienung ihrer Gadgets sind, ihnen gleichzeitig aber so ausgeliefert sind wie ein Schaf seinem Hirten.
Mit etwas Engagement und dem Überarbeiten weltfremder Lehrpläne könnte man diesen Zustand der Unmündigkeit leicht beenden. Leider gibt es da ein Problem, denn
„[e]s ist so bequem, unmündig zu sein. […] Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.“
Diese 230 Jahre alte Feststellung Immanuel Kants gilt auch in der digitalen Welt, schließlich basieren die Ideen vieler IT-Start-ups darauf, uns „verdrießliche“ Geschäfte abzunehmen, etwa das Speichern der eigenen Dokumente und Fotos.
Keine mündigen Bürger ohne IT-Wissen
Längst bedienen sich auch Schulen dieser bequemen Dienste, statt eigene Lösungen zu entwickeln oder sich an der reichhaltigen Quelle der Open-Source-Software zu bedienen. Nur eins hat sich seit Kant geändert: Die Währung, in der diese Dienste bezahlt werden, ist nicht länger Geld, sondern es sind die persönlichen Daten, die zur Ware geworden sind. Die Konsequenzen der Abhängigkeit, in die man sich dadurch begibt, sind heute noch gar nicht abzuschätzen.
Für jedermann verständlich dargestellt wird das in dem Buch „Kämpf um deine Daten“ von Max Schrems. Darin beschreibt der Autor auch treffend eines der dringendsten Probleme unseres Bildungssystems:
„Heute bringen wir unseren Kindern in 12 Jahren Schule vom Häkeln bis zur komplexen Physik […] alles bei. Nur das Innenleben der Computer, der Netze oder Handys, die wir heute viel mehr nutzen als jedes andere Werkzeug, wird größtenteils vernachlässigt. Es reicht uns aus, dass wir damit arbeiten können, das Verstehen ist nebensächlich.“
Den Computer zum Unterrichtsgegenstand machen, um ihn zu verstehen und produktiv zu nutzen, heißt jedoch nicht, sich vollständig seiner digitalen Logik zu unterwerfen. Dafür wäre der Mensch auch nicht gemacht, schließlich hat unser Gehirn nicht viel mit einem Computer gemeinsam. In seinem Buch „Lob des Irrtums“ macht Jürgen Schaefer auf diesen Unterschied aufmerksam:
„Wir glauben Erinnerungen zu .speichern’, und stellen uns das Denken als einen Rechenvorgang vor, wenn wir eine Situation ,analysieren’. Doch das menschliche Gehirn hat nichts mit dem Speichern auf einem Mikrochip gemein. Unsere Erinnerungen werden ständig überformt, neu bewertet und einem sich verändernden Selbstbild angepasst.“
Und natürlich verlaufen auch unsere Bildungskarrieren nicht digital. Egal, wie sehr der Computer unser Leben bestimmt, wir sammeln im Leben keine Bildungspunkte, die uns sukzessive schlauer machen – auch wenn Schulen und Universitäten uns das manchmal glauben machen wollen. Bildung ist im Gegensatz zu Computern nicht vorhersehbar, nicht planbar und nicht machbar; es lässt sich nur ein günstiges Ökosystem schaffen, das Bildung wahrscheinlich werden lässt. Und im Blick auf die Zukunft müssen Computer darin eine wesentliche Rolle spielen.
Einige Lehrkräfte haben übrigens noch eine weitere Karikatur durchs Netz geschickt. Auf ihr sieht man einen Jungen mit einem Papierflieger neben einem Astronauten auf dem Mond. Der Text darunter lautet: 250 Jahre Raumfahrt. Weitere Bilder zeigen die Evolution der Medizin und der Fortbewegung. Zuletzt sieht man zwei recht ähnlich aussehende Lehrer vor der Klasse stehen. Die Unterschrift lautet: „250 Jahre deutsche Bildungspolitik“.
Auch hier ist die Botschaft deutlich: Schulen in Deutschland entwickeln sich seit Jahrhunderten nicht wirklich weiter. Es ist also Zeit für ein Update: ein Update der Lehrpläne, der Lehrerausbildung und der im Unterricht verwendeten Bildungsmedien. Wer meint, dass das nicht längst überfällig ist, dem sei abschließend die Lektüre eines interessanten Buches von Douglas Rushkoff empfohlen. Eigentlich reicht schon ein Blick auf den Titel: „Program or Be Programmed“.
Nennt das Bezugsfach: es ist Informatik – Medienbildung auf einer fachlichen Grundlage nur mit #Pflichtfachinformatik ab der Grundschule mit 2 Unterrichtsstunden möglich (siehe z.B. GB).
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