Chance vertan: Das Leitbild „NRW 4.0 – Lernen im Digitalen Wandel“

Es ist da, aber anders als erwartet: das Leitbild "Lernen im Digitalen Wandel"

Es ist da, aber anders als erwartet: das Leitbild „Lernen im Digitalen Wandel“

Ich soll dich lieben – in guten und schlechten Zeiten. Diesen Satz möchte am Traualtar wohl niemand hören, denn der Wechsel von „werde“ zu „soll“ nimmt der Aussage jede Verbindlichkeit.

Selbst kleinste Änderungen in der Sprache haben also manchmal eine große Wirkung. Politikerinnen und Politiker sind sich dessen sehr bewusst, schließlich haben kleine Unterschiede in der Formulierung  oftmals weitreichende (finanzielle) Folgen.

Man muss politische Texte daher wie Konzilsdokumente ganz genau lesen, wenn man sie richtig verstehen will. Das gilt auch für das nun verabschiedete Leitbild „NRW 4.0 – Lernen im Digitalen Wandel“. Das ist vor allem deshalb spannend, weil auch die durch Bürgerbeteiligung erstellte Vorlage einsehbar ist. Man kann also Wort für Wort nachvollziehen, was geändert wurde und über die Gründe spekulieren.

Ein vielversprechender Anfang

„NRW 4.0 – Lernen im Digitalen Wandel“ wird auf der extra eingerichteten Internetpräsenz als „erstes Leitbild für Bildung in Zeiten der Digitalisierung“ angepriesen.

Die Ergebnisse lesen sich auf den ersten Blick auch nicht schlecht: „Informatische Grundkenntnisse“ sollen in den Fachunterricht eingebunden werden und auch die Hochschulen sollen durch das Programm „Digitale Hochschule NRW“ fit gemacht werden fürs digitale Zeitalter.

Der Dialogprozess begann im November 2015 und wurde fortgeführt mit einem großen Kongress sowie zwei Fachgesprächen. Jeder hatte zudem die Möglichkeit, sich online am Diskussionsprozess zu beteiligen.

Neben André Spang, Wolfgang Vaupel (Geschäftsführer der Medienberatung NRW) und Richard Heinen (Learning Lab Uni Duisburg-Essen) war ich beim zweiten Fachgespräch als externer Berater mit dabei. Daher weiß ich, wie engagiert dort um die Vorlage und jede einzelne Formulierung gestritten wurde.

Die aus meiner Sicht wichtigsten Ergebnisse dieses Prozesses waren folgende (alle Angaben sind wörtliche Zitate aus der Vorlage):

  1. Der Medienpass NRW wird verbindlich.
  2. [A]lle künftigen Lehrpläne werden digitale Aspekte fachlicher Kompetenzen verbindlich machen.
  3. Die Zukunft des Schulbuches ist digital.
  4. Aus- und Fortbildung werden gezielt und systematisch auf die Anforderungen in der digitalen Welt ausgerichtet.
  5. Die Schaffung der Infrastruktur für das Lernen in der digitalen Welt ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung – die gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen wird wahrgenommen und in koordinierten Maßnahmen umgesetzt.

Kleine Änderungen – große Wirkung

Niemand hat erwartet, dass der Landtag die Forderungen wörtlich übernimmt, aber dass die Änderungen so gravierend sind, hätte zumindest ich nicht gedacht. Hier sind die neuen Formulierungen, die ebenfalls wörtlich zitiert sind:

  • Der Medienpass NRW wird verbindlich. [D]er Kompetenzrahmen des Medienpasses NRW dient […] als verbindlicher Orientierungsrahmen.

Warum wurde aus „verbindlich“ ein „verbindlicher Orientierungsrahmen“? Der Medienpass NRW ist ein ausgearbeitetes Konzept mit einer hervorragenden Materialsammlung. Jede Lehrkraft bzw. jede Schule könnte diesen Medienpass ohne großen Aufwand verbindlich ins schulinterne Curriculum aufnehmen.

Auf dem Kongress schulentwicklung.digital wurde der Medienpass übrigens mehrfach von anderen Bundesländern als Vorbild genannt. Warum er jetzt nicht verbindlich gemacht wurde, ist mir völlig unverständlich. Ein „verbindlicher Orientierungsrahmen“ ist der Medienpass schon jetzt und kaum eine Schule setzt ihn ein.

  • [A]lle künftigen Lehrpläne werden digitale Aspekte fachlicher Kompetenzen verbindlich machen. Alle künftigen Lehrpläne werden digitale Aspekte fachlicher Kompetenzen schrittweise verbindlich machen.

Warum hat sich hier jemand genötigt gefühlt, das Wort „schrittweise“ einzufügen? Wahrscheinlich deshalb, weil dann niemandem ein Vorwurf gemacht werden kann, wenn er „digitale Kompetenzen“ bei der nächsten Lehrplanänderung nicht ausreichend berücksichtigt. Warum auch hier diese Verzögerung eingebaut wurde, ist ebenfalls völlig unverständlich. Was wäre denn bitte im 21. Jahrhundert so schlimm daran, wenn „digitale Aspekte“, was ja ohnehin schon schwammig genug ist, verbindlich und nicht „schrittweise verbindlich“ gemacht werden?

  • Die Zukunft des Schulbuches ist digital. Die Perspektive des Schulbuches ist digital.

Warum auch hier die Abschwächung von „Zukunft“ zu „Perspektive“? Hier lohnt sich noch ein Blick ins „Kleingedruckte“, also die Erläuterung der jeweiligen These. Im Entwurf hieß es noch:

„Sofern in der Schule die notwendigen Lern- und Medienkompetenzen gefördert werden, können frei zugängliche digitale Lernmittel einen Beitrag zu Bildungsgerechtigkeit leisten.“

Das war ein klarer Hinweis auf der Bedeutung von OER-Materialien, der ersatzlos gestrichen wurde. Stattdessen werden frei zugängliche Lernmittel nur für den Einsatz außerhalb der Schule vorgesehen. Auch hier stellt sich die Frage: Warum?

Und warum wurde stattdessen der Satz eingefügt: „Die Qualität und die Vielfalt der Lernmittel wirken sich auf die Qualität von Unterricht aus.“ Ist das als dezenter Hinweis darauf zu lesen, dass nur die Schulbuchverlage qualitativ geeignete Materialien herstellen?

Und warum muss ich überhaupt beim Lesen von „Thesen“ mit dem Rätseln anfangen? Ginge es nicht etwas konkreter? Dabei hat 2015 der Bundestag noch die Bundesregierung dazu aufgefordert, bei der gemeinsamen Entwicklung und Umsetzung der Strategie „Digitales Lernen“ Schwerpunkte zu setzen bei:

dem Einsatz digitaler Bildungsangebote wie zum Beispiel von Open Educational Resources (OER) zur kostenfreien Nutzung sowie der Verwendung freier Lizenzen und Formate, um dadurch die besonderen Potenziale für individualisierte sowie kooperative Lernkonzepte und inklusive Bildungssettings zu nutzen

  • Aus- und Fortbildung werden gezielt und systematisch auf die Anforderungen in der digitalen Welt ausgerichtet. Ausbildung und unterstützende Fortbildung werden gezielt und systematisch auf die Anforderungen in der digitalen Welt ausgerichtet und ausgeweitet.

Diese These wurde so gut wie nicht geändert, stattdessen wurde ein „ausgeweitet“ hinzugefügt. Ich erwarte also in den nächsten Monaten und Jahren „gezielte und systematische“ Fortbildungen zum Thema „digitale Welt“. Bislang sind diese nämlich kaum vorhanden.

Immerhin ist sich also die Landesregierung darüber einig, dass die Aus- und Fortbildung ihrer Lehrkräfte defizitär ist. Es sollte also (am besten auf Grundlage des Medienpasses NRW) interessante, abwechslungsreiche Fortbildungen geben, die Lehrkräften zeigen, das Computer das kreativste Werkzeug aller Zeiten sind und z. B. Mini-Computer wie der Raspberry Pi hervorragend dazu genutzt werden können, an 1-2 Tagen im Jahr einer ganzen Klasse die notwendigen digitalen Kompetenzen spielerisch und anschaulich beizubringen.

Wie das aussehen könnte, erarbeite ich gerade für unsere Schule. Wer sich für das (vorläufige) Konzept eines solchen „Medienpass-Tages“ interessiert, kann es sich hier (am Beispiel der Klassen 5 und 6 an einem Gymnasium) herunterladen. So könnte sichergestellt werden, dass alle Klassen die notwendigen digitalen Kompetenzen erhalten und es könnte eine gezielte Festigung bzw. Überprüfung der Kompetenzen im regulären Fachunterricht erfolgen.

  • Die Schaffung der Infrastruktur für das Lernen in der digitalen Welt ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung – die gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen wird wahrgenommen und in koordinierten Maßnahmen umgesetzt. die gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen soll wahrgenommen werden.
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Gute Schule 2020 – Ein Förderprogramm des Landes NRW & der NRW.BANK (Bildquelle: Land NRW)

Und auch hier wird aus dem „wird“ ein „soll“, das enorme Konsequenzen haben wird, denn mit der Finanzierung steht und fällt das Lernen im digitalen Wandel.

In diesem Zusammenhang lohnt sich ein näherer Blick auf das Förderprogramm „Gute Schule“, das am 30. September ins Leben gerufen wurde. Hierzu zitiert eine Pressemitteilung Hannelore Kraft mit den Worten:

 

„Wir wollen schon bis 2020 gute und moderne Schulen in ganz Nordrhein-Westfalen schaffen. Dabei unterstützen wir die Kommunen gerne. Denn wenn wir viele kluge Köpfe haben wollen, wenn Inklusion und Integration gelingen sollen, brauchen wir gute Schulen und das bedeutet immer auch eine moderne Schulinfrastruktur. Mit dem Programm Gute Schule 2020 wollen wir auch den digitalen Aufbruch unserer Schulen vorantreiben, um die Grundlagen für die Zukunft des Lernens in unseren Schulen zu verbessern. Die zwei Milliarden Euro sind daher gut investiertes Geld.“

Das stimmt! Zumal der Finanzminister Norbert Walter-Borjans zurecht auf Twitter bemerkt hat:

Wofür soll das Geld nun verwendet werden? Leider nicht ausschließlich für den „digitalen Ausbau“, sondern für Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen auf kommunalen Schulgeländern und den dazugehörigen Sportanlagen. Erst im Nachsatz heißt es: „Gefördert werden auch Maßnahmen zur Verbesserung der digitalen Infrastruktur und Ausstattung von Schulen.“

Besonders arme Kommunen sollen besonders unterstützt werden. Laut Bericht des Kölner Stadtanzeigers stehen Düsseldorf 33 Millionen zur Verfügung, Köln 100 Millionen.

Der Bericht erwähnt jedoch auch die Umfrage des WDR vom Februar 2016, die ergeben hat, dass es an den Schulen in NRW einen Sanierungsstaub von hochgerechnet 2,4 Milliarden gibt. Da bleiben dann nach Adam Riese für die digitale Bildung sage und schreibe -400.000.000€ übrig.

Vertane Chancen

Geld ist jedoch zum Glück nicht alles. Umso schwerwiegender ist es, dass selbst Maßnahmen wie die Einführung des Medienpasses NRW, die wahrscheinlich so gut wie nichts gekostet hätte, vermieden wurden. Und auch Open Educational Resources würden dem Land langfristig viel Geld sparen.

Was bleibt ist die Hoffnung auf eine spürbare Ausweitung der Lehrerfortbildungen und eine „digitale Reform“ der Ausbildung von Referendaren. Konkrete Schritte zur Umsetzung sind mir diesbezüglich jedoch noch nicht bekannt.

Man sollte zudem nicht erwarten, dass das verabschiedete Leitbild in der vorliegenden Form unmittelbare Konsequenzen auf die Arbeit in den Schulen hat. Warum diese Chance dadurch vertan wurde, dass auf Verbindlichkeit weitgehend verzichtet wurde, erschließt sich mir nicht.

Oder sehe ich das alles falsch? Ich würde mich sehr über Korrekturen, Anmerkungen und weitere Denkanregungen in den Kommentaren freuen.

4 Kommentare zu “Chance vertan: Das Leitbild „NRW 4.0 – Lernen im Digitalen Wandel“

  1. Leider hast du mit Vielem absolut recht, es sind vertane Chancen. Ich glaube aber, dass immerhin ein guter Prozess in Gang kommt. Auch wenn Formulierungen wie „verbindlicher Orientierungsrahmen“ (es geht ja eigentlich entweder „verbindlich“ oder „Rahmen“) oder auch die digitale Perspektive des Schulbuchs (sollte es nicht eher „Medium schulischer Bildung“ heißen) sich sehr nach Politikersprech anhören, ich hoffe – optimistisch -, dass ein sinnvoller Prozess jetzt in Gang kommt.

  2. Danke für die umfassende Analyse. Anders als du, war ich nicht am Entwicklungsprozesse beteiligt und kenne so die ursprünglichen Formulierungen nicht. Was du beschreibst, ist wohl die übliche politische Weichspülung. Man hält sich bewusst zurück, um niemanden unter Druck zu setzen und Ausweichmöglichkeiten zu lassen. So kann man sich politisch nicht so leicht die Finger verbrennen. Man muss natürlich auch einfach mal die Realitäten vor Ort betrachten. Was würde es wohl an den Schulen für einen Aufschrei geben, wenn der Medienpass NRW mit einem Mal verpflichtend wäre? Schulen sind schon jetzt kaum willens, sich damit zu beschäftigen. Ähnliches gilt sicher auch für die anderen Bereiche. Wir haben es mit Schule zu tun, nicht mit Wirtschaftsunternehmen. Da wäre die Sache einfach – Anordnung und die Umsetzung folgt. Und wenn da ein Mitarbeiter auf Durchzug stellt und meint, nicht mitmachen zu müssen, dann ist er raus. An vielen Schulen kann man Veränderungen leicht aussitzen.

    Die Medienberatung NRW konnte zumindest ihre Produkte Medienpass NRW, learnline und Logineo NRW unterbringen. Wäre auch schade gewesen, wenn nicht.

    Der Medienpass NRW ist sicher eine gute Grundlage, allerdings muss er dringend überarbeitet werden. Eingeführt wurde er 2012. Voran ging die Konzeption und eine Testphase. So gründet er auf Vorstellungen, die mindestens 6 Jahre alt sind. Mittlerweile haben sich schon einige Dinge geändert, und damit meine ich nicht die Technik. Beim Medienpass NRW liegt der Fokus meiner Meinung nach zu sehr auf Handling und Prävention. Das, was als 21st Century Skills bezeichnet wird und sich mittlerweile als recht grundlegend abzeichnet, unabhängig von technischen Trends, kommt mir zu kurz. Gerüchteweise soll man in der Medienberatung NRW schon über eine Aktualisierung des Medienpass NRW nachdenken.

  3. Pingback: Oktober 2016 – Rückblick auf einen denkwürdigen Monat « Medienistik Blog

  4. Das Problem ist, dass die guten Ansätze nicht richtig umgesetzt werden und somit viele tolle Ideen im Nichts enden. Es fehlt mir an Zielstrebigkeit und Führungskräften, die in der Lage sind solche digitalen Projekte auch umzusetzen. Ist das nicht gegeben, wird es schwer und dann sind solche Pläne vergeudete Zeit

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