
Als ich 13 Jahre alt war, erschien XPLORA1 von Peter Gabriel: digitale Kunst in Form eines Computerspiels auf dem brandneuen Medium CD-ROM: Man klickte auf Bilder, sah sich Videos an, hörte Soundschnipsel und war erstaunt, wozu Multimedia in der Lage war.
Einige Jahre später entstand das Nachfolgeprojekt „EVE“, das den User am kreativen Prozess der Musikproduktion teilhaben ließ. Man konnte einen eigenen Song mixen, dazu gab es in eine Story vom Paradies und dem Sündenfall. Ein Artbook erläuterte die Hintergründe, ähnlich wie der Katalog zu einer Ausstellung.

Spaß wie ein Computerspiel machte keines der beiden Programme, aber die merkwürdige Mischung aus Spiel und Kunstwerk fühlt sich noch immer futuristisch an und man hat das Gefühl, Kunst nicht nur zu betrachten, sondern selbst welche zu erstellen – oder doch zumindest ein Kunstwerk interaktiv verändern zu können.
Das Gefühl, Teil eines interaktiven Kunstprojekts zu sein, riefen Jahre später auch Spiele wie Flow oder Journey hervor. Aber die Frage, ob diese Spiele bzw. Computerspiele generell wirklich Kunst sein können, wird weiterhin kontrovers diskutiert.
Computerspiele im Museum
Eine Ausstellung zum 15-jährigen Bestehen der Julia Stoschek Foundation mit dem Titel „WORLDBUILDING: Videospiele und Kunst im digitalen Zeitalter“ lotet seit Juni 2022 (und bis Dezember 2023) erneut aus, inwiefern Computerspiele als Medium der Kunst taugen.
Für alle, die den Namen zum ersten Mal hören: Julia Stoschek, geboren 1975, besitzt die wohl weltweit bedeutendste Medienkunst-Sammlung. Der Großteil davon befindet sich seit 2007 in einem alten Industriebau im Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel.
Gemeinsam mit dem renommierten Kurator Hans Ulrich Obrist hat sie im vergangenen Jahr eine beeindruckende Ausstellung konzipiert, die einen einzigartigen Blick auf das relativ junge Medium Computerspiel wirft und zeigt, dass wir am Beginn einer Epoche in der Kunstgeschichte stehen, in der interaktive Erzählformen und digitale Welten neue Möglichkeiten der Immersion eröffnen.

In der Ausstellung werden kaum kommerziellen Spiele präsentiert, sondern zum Teil Modifikationen bekannter Titel und vor allem Kunstinstallationen, die mehr sein wollen als ein Spiel.
Dadurch wirkt die Ausstellung seriöser als die etwas verspielte und mehr fürs Massenpublikum gedachte Next Level Conference, die seit Jahren Kunst-Performances rund um das Thema Videospiele präsentiert und gezielt Kinder und Jugendliche anspricht.

Letztere dürften sich mit der Ausstellung „WORLDBUILDING“ aber vermutlich schwer tun, denn obwohl auch populäre Spiele wir Fortnite zu sehen sind, benötigen die Installationen Zeit und wer mit einer Tik Tok-Mentalität durch die Ausstellung jagt und davon ausgeht, dass sich einem jedes Kunstwerk innerhalb weniger Sekunden erschließt, wird enttäuscht werden.
Wer sich hingegen Zeit nimmt, das ausgelegte Heft zur Ausstellung studiert und sich eventuell im Internet noch ein paar Hintergrundinformationen zu den Künstlerinnen und Künstlern besorgt, kann in der Ausstellung die überaus bereichernde Erfahrung machen, dass auch die virtuelle Welt trotz aller Anonymität und Beschränkungen ein Ort sein kann, an dem menschliche Fragen nach der eigenen Identität, dem Sinn des Lebens, Vergänglichkeit und Transzendenz verhandelt werden.
Pac-Man und Quake als Kunstinstallation

Die Ausstellung beginnt mit einer nostalgischen Retro-Sektion, in der man die (zumindest für Gamer aus den 80ern) vertrauten Klänge von Pac-Man, Space Invaders und Quake hört. Die Spiele sind jedoch modifiziert – zum Teil minimal, wie bei Pac-Man, zum Teil stark, wie bei Quake, denn die Installation des Künstlerkollektivs JODI namens „Untitled Game“ ersetzt bei dem Spiel alle Texturen mit einem schwarz-weiß-Muster. Da ich wahrscheinlich kein Spiel in meinem Leben mehr gespielt habe als Quake, hat mich diese Installation natürlich besonders interessiert. Greift man zu dem ausliegenden Controller, wird man aber schnell enttäuscht, denn spielbar ist das Ganze nicht wirklich. Was einem das jetzt sagen soll? Man weiß es nicht wirklich.
Ähnlich erging es mir bei der Installation „Pacman“ von Sturtevants. Zu sehen ist eine minimal modifizierte Version des bekannten Spieleklassikers. Ein Blick in den Ausstellugskatalog verrät, dass das Kunstwerk „Fragen nach Bild und Wahrheit im Spätkapitalismus“ aufwerfen soll und weiter heißt es: „Das Spiel folgt der Logik des Fressens und Gefressenwerdens und wird von der Semiotik schwebender Zeichen beherrscht.“ Dadurch finden sich in dem Spiel „unsere zeitgenössischen Erfahrungen, in einer durch Konsum und Simulation bestimmten Welt zu leben, wieder.“

In der Arbeit Space Invader ist eine Atari 2600-Konsole mit einer Mod des Klassikers Space Invaders ausgestellt. Offensichtlich hat sich aber längere Zeit niemand damit beschäftigt, denn als ich den Joystick in die Hand nahm, funktionierte die Steuerung nicht, weil er im falschen Port eingesteckt. Erst nachdem ich ihn umgesteckt hatte, konnte ich das Kunstwerk „erspielen“. Der Clou: Alle Aliens bis auf eins fehlen in der Mod. Dadurch, so der Katalog, werde uns die Schnelllebigkeit und der Alterungsprozess von Technologie vor Augen geführt.
Videospiele, die Gaming-Konventionen in Fragen stellen
Diese Arbeiten reißen heute sicherlich niemanden mehr vom Hocker, aber lässt man die Retro-Ecke hinter sich, gelangt man in einen dunklen Raum, in dem man auf einer riesigen Leinwand mit einer pinkfarbenen Waffe auf die Jagd nach Monster gehen kann. Das Spiel macht jedoch gleich zu Beginn klar, dass man hier keinen gewöhnlichen Shooter spielt, denn es erscheint die Anweisung „DONT SHOOT“, gefolgt von der Warnung: „I NEED YOU TO TAKE A LOOK AT THE GUN YOU ARE HOLDING AND THINK ABOUT WHY YOU WERE EXCITED TO BE PLAYING A GAME WHICH HAS A GUN AS A CONTROLLER“. Im Spiel des Künstlers Danielle Brathwaite-Shirley geht es darum, in die Lebenswelt von Schwarzen Transpersonen einzutauchen und nebenbei die Konventionen von Shooter-Games zu überdenken – das ist schon wesentlich interessanter und auch spielerisch herausfordernd.
Genderidentität ist auch das Thema in anderen Arbeiten der Ausstellung, etwa in „Pastoral“ von Theo Triantafyllidis, wo ein muskelbepackter Ort im Bikini ziellos durch ein Weizenfeld streift, oder in „H.O.R.I.Z.O.N.“ vom „Institute of Queer Ecology“, das auf einer virtuellen Insel eine queere Kommune simuliert.
Ein Medium, viele Themen
WORLDBUILDING bietet thematisch aber noch viel mehr, etwa die Arbeit „i.Mirror by China Trey“ der chinesischen Ausnahmekünstlerin Cao Fei. In ihrer Arbeit nutzt sie die einst gehypte Virtual Reality-Plattform „Second Life“, um zu zeigen, was virtuelle Welten eigentlich ausmacht und wie sie die reale Welt widerspiegeln.
Absolut sehenswert ist auch die Arbeit „We Are in Hell When We Hurt Each Other“ von Jacolby Satterwhite, die für sich genommen schon beeindruckend ist, aber noch wesentlich mehr Tiefe gewinnt, wenn man die Lebensgeschichte des Künstlers kennenlernt und anschließend die vielen persönlichen Referenzen in seinen Arbeiten erkennt.
Und es gibt noch zahlreiche weitere Entdeckungen in der Ausstellung, etwa die herzzerreißende Geschichte des letzten Kauai Ō’Ō Vogels, der in einem Projekt des Künstlers Jakob Kudsk Steensen digital zu neuem Leben erweckt wird.
Ein weiteres Highlight ist die interaktive Installation „PLAYER OF COSMIC REALMS“ von Keiken. Mithilfe einer Silikon-Gebärmutter, die man sich auf den Bauch legt, wird eine neue Verbindung zur digitalen Welt geschaffen, die wirklich ein Erlebnis ist.
Fazit
WORLDBUILDING ist eine überraschend gehaltvolle und sehr aktuelle Ausstellung – traurigerweise auch wegen des Beitrags „Serious Games“ von Harun Farocki, der etwas verborgen in einem kleinen Kino im Keller des Ausstellungsgebäudes zeigt, wie Soldaten mit Videospielen rekrutiert, trainiert und therapiert werden.
Die Ausstellung ist somit ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur Anerkennung von Computerspielen als Kulturgut, das – wie Literatur, Film und Musik – sowohl unterhaltsam als auch existentiell ernst sein kann.
Ein Gedanke, der mir bei der Reflexion der Ausstellung immer wieder in den Kopf kam, ist jedoch, dass Kunst, die auf Computerspielen basiert, schnell altert und dadurch vielleicht auch an Relevanz verliert. Die Spielszenen voller Clipping-Fehler und verwaschener Texturen auf wenigen Polygonen aus Tomb Raider etwa, die Peggy Ahwesh in „She Puppet“ von 2001 zeigt, sind heutzutage einfach deutlich weniger eindrucksvoll als vor 20 Jahren. Wenn man dann im Ausstellungskatalog liest, dass sich beim Betrachten der Szenen „unschwer Gedanken an die wohl leicht angeturnten Programmierer“ einstellen sollen, wirkt das schon eher komisch.
In einem Interview mit dem Handelsblatt äußerte Julia Stoschek den Wunsch, mit der Ausstellung ein junges Publikum anzuziehen, das kein klassisches Museum besuchen würde. Hierfür fehlt jedoch aus meiner Sicht ein entsprechendes Konzept, wie es etwa die Next Level Conference mit Workshops oder Angeboten für Schulklassen bietet.
Würden Kinder und Jugendliche beim Betrachten der Werke besser angeleitet werden und gäbe es begleitende pädagogische Materialien oder Workshops für Schulklassen, wäre das Ziel, Kinder und Jugendliche für moderne Kunst zu begeistern, sicherlich erreichbar. An den herausragenden Kunstwerken und der gelungenen Präsentation scheitert es mit Sicherheit nicht.
WORLDBUILDING ist also auf jeden Fall einen Besuch wert, zumal sowohl der Eintritt als auch der Ausstellungskatalog kostenlos sind. Die Julia Stoschek Collection hat jeden Sonntag von 11.00 – 18.00 Uhr geöffnet. Sie befindet sich in der Schanzenstr. 54 in 40549 Düsseldorf.